So geht's:
Egal, ob Song oder Szene, ich werde immer die folgenden Fragen zu dem jeweiligen Beispiel beantworten:
- Für wen hat sich die Szene am stärksten gewandelt?
- Wie hat sich die Szene vom Anfang zum Ende gewandelt?
- Was ist das auslösende Ereignis der Szene?
- Was ist eine steigende Komplikation in der Szene?
- Was ist der Wendepunkt der Szene?
- Was ist die Krise der Szene?
- Was ist der Höhepunkt der Szene?
- Was ist die Auflösung der Szene?
Aufgrund des Copyrights bitte ich dich, die erste Szene des Romans 'Nicolas Calva. Das magische Amulett' über den folgenden Links zu lesen.
Szenentitel: Eins
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Versuche dann, die oberen Fragen selbst zu beantworten, bevor du meine Antworten liest. Je mehr du selbst trainierst, umso besser werden auch deine eigene Szenen.
P.S. Unterschiedliche Auffassungen können existieren.
Meine Antworten:
- Für wen hat sich die Szene am stärksten gewandelt?
Die Geschichte dreht sich um Nicolas, einem Sklavenjungen, der sich weigert, in einem Stollen in die Höhle des Julias Cäsar hinabzusteigen. Nicolas ist demnach unser Protagonist.
- Wie hat sich die Szene vom Anfang zum Ende gewandelt?
Auch hier gibt es verschiedene Möglichkeiten, die sich auf die Veränderung für Nicolasbeziehen.
Zum einen ändert sich die Szene für ihn von gejagt zu sicher zu bedroht. (Er wird von Sal, dem Aufseher bedroht, flieht und versteckt sich in einer Felsspalte, wo er Zeuge einer Konspiration wird.)
Sal – Vorarbeiter mit Fußpilz – ist wütend und herrisch, aber auch dumm. Er hasst Nicolas, der genau das Gegenteil ist und meint als Herr über Leben und Tod Nicolas zum Abstieg in die Höhle zwingen zu können. Sal möchte den Schatz gewinnen, bevor General Radulf oder jemand anderes ihn als den seinen deklariert. Nicolas weigert sich, denn er ist klug genug zu sehen, dass dieser Abstieg ihn viel kosten wird, vielleicht sogar sein Leben. Auch wenn sein Leben schwer ist (karge Kost, Unfreiheit, harte Arbeit und ein Aufseher wie Sal!), so will Nicolas nicht sterben. Er hängt an seinem Leben und ist nicht so blöd ist, sein Leben aufs Spiel zu stellen.
Die Szene ändert sich also von mutig (er widerspricht Sal) zu bedroht (Nicolas bleibt keine andere Lösung, als zu fliehen).
Eine unumkehrbare Entscheidung für Nicolas ist es, als er sich dazu entschließt, zu fliehen. Da wandelt sich die Szene von unschuldig zu schuldig, da er nun ein entlaufener Sklave in Rom ist. Diese Wendung ist gleichzeitig die, welche die Szene am besten beschreibt, weil mit dieser Entscheidung am meisten auf dem Spiel steht. Diese Entscheidung kann Nicolas nicht rückgängig machen. Er will nicht in die Höhle hinuntersteigen und er will nicht der Spielball von anderen sein, sondern seine Schwester Livia beschützen. Selbst wenn er zurückgehen würde, er wäre immer noch ein aufmüpfiger Sklave, der nicht nur einen Befehl verweigert hat, sondern auch versucht hatte, zu fliehen.
Wenn wir die Auflösung der Szene betrachten, ist Nicolas nun vollkommen allein. Was er noch an vertrautem Umfeld hatte - wie eine karge Kost, Schläge und gefährliche Aufträge und ein Leben mit seiner Schwester Livia - , all das hat er nun aufgegeben.
- Was ist das auslösende Ereignis der Szene?
Nicolas soll in die Höhle des Cäsar hinunter klettern.
Für die Fragen 3-8 nutzen wir immer die Perspektivfigur, um die Antworten zu finden. Natürlich sollte sich auch für die Nebenfiguren in der Szene etwas ändern, aber wenn man verfolgen will, wie sich der Verlauf der Geschichte auf die Perspektivfigur auswirkt, sollte man auch diese Figur im Auge behalten.
- Was ist eine steigende Komplikation in der Szene?
Nicolas diskutiert mit Sal, warum es eine Verschwendung von Menschenleben ist, wenn er in die Höhle klettert.
- Was ist der Wendepunkt der Szene?
Als Sal beschließt, dass Nicolas wegen Ungehorsam getötet werden soll: „Wirf seine Leiche in den Schacht und besorg mir einen neuen Sklaven.“ Der Wächter zog ein Messer aus dem Gürtel, aber ich hatte nicht vor, mich von diesem Schwein abstechen zu lassen.“
Der Wendepunkt der Szene ist die letzte steigende Komplikation für die Perspektivfigur, welche die Figur von ihrem Szenenziel abbringt. Die Figur stürzt in eine Krise und muss sich zwischen der besten, schlechtesten Entscheidung oder zwei Optionen entscheiden, die Nicolasht miteinander vereinbar sind. In der Hoffnung, dass sie ihren Weg zu ihrem Ziel wieder fortsetzen kann.
- Was ist die Krise der Szene?
Soll er in die Höhle hinabsteigen? Die Frage ist, was dann mit ihm passiert? Stirbt er wie der erste Sklave oder kommt er verwirrt zurück wie Fidelius, der Freund von Nicolas, der seitdem „in einer Ecke kauerte, unverständliches Zeuge murmelte und auf seiner Faust herumkaute wie ein Hund auf einem Knochen.“
Nicolas muss als Sklave gehorchen und Sal hat es eilig, den Schatz zu bergen, bevor einer der bedeutenden Männer Roms alles an sich reißt. Nicolas will die Freiheit, er will leben, und er will nicht, dass Sal über sein Leben entscheidet, also Herr über Leben und Tod ist. Was könnte in der Höhle schon sein, was sein Leben zum Guten verändern würde? Soll er sein Leben für den Ehrgeiz anderer vergeuden? Und was ist mit Livia, seine jüngere Schwester, für die er verantwortlich ist, seitdem die Mutter gestorben ist?
Als Sal ihm den Wächter übergibt, weiß Nicolas, dass er nichts mehr zu verlieren hat – er flieht und weil er den Stollen viel besser kennt als Sal, gelingt es ihm, sich in einem dunklem Spalt zu verstecken. Doch Nicolas weiß, er ist noch längst nicht frei, denn er muss noch aus den Stollen herauskommen und Livia, seine Schwester, finden. Ihm war schon immer klar, dass er eines Tages mit ihr fliehen wollte.
- Was ist der Höhepunkt der Szene?
Nicolas will sich nicht wie ein Schwein abstechen lassen, er wollte schon immer mit seiner Schwester fliehen, also würde er es heute tun. Sein Leben soll Sinn haben.
- Was ist die Auflösung der Szene?
Nicolas ist nun geflohen, ein geflohener Sklave in Rom ist Freiwild. Er kauert in seiner Felsspalte und wartet ab, doch dann hört er, wie General Radulf plant, Rom zu zerstören. Das ist ein bedrohliches Ende. „Doch obwohl ich die Augen schloss und versuchte, immer mehr in der Felsspalte zu verschwinden, wusste ich, dass sich auch mein Leben bald ändern würde.“
Anmerkung zur ersten Szene von Jennifer A. Nielsen Nicolasolas Calva. Das magische Amulet.
In der ersten Szene des Romans lernen wir den Protagonisten Nicolas kennen. Und das durch die Ich-Perspektive und im Disput mit Sal, dem „Herrscher über Leben und Tod“, der eine Peitsche hat, „den Verstand einer verschrumpelten Karotte und das Mitgefühl einer wütenden Wespe.“
Im diesem Streitgespräch lernt der Leser Nicolas kennen, wir erfahren viel über ihn und entwickeln sofort Empathie für den jungen Sklaven. Denn wer von uns kennt nicht den Wunsch, selbst über unser Leben zu bestimmen. Keiner will klaglos Befehle ausführen, die blödsinnig sind.
Für Jugendliche mag dieser Satz noch vertraut klingen: „Ich habe deinen Ungehorsam lange genug großzügig übersehen.“
Die Autoritätsfrage und der Wunsch, ein selbstbestimmtes Leben zu leben, sind Fragen, die nicht nur jeden Menschen beschäftigen, sondern auch vor allem junge Menschen, die Zielgruppe des Buches.
Nicolas‘ Flucht überrascht. Natürlich hat der Leser schon ein Bild von Nicolas, der mutig und klug ist, auch aufmüpfig und doch voller Humor. „Nur einem Dummkopf würde es einfallen, sich als Sklave gegen die mächtigen Götter aufzulehnen. Ich war auf dem besten Weg, ein solcher Dummkopf zu werden.“
Der Leser weiß: Es ist lebensgefährlich, als Sklave zu fliehen und sich im römischen Reich zu verstecken. Das ist eine aussichtslose Situation. Nicolas steht zwischen zwei schlechten Optionen und jede scheint in den Tod zu führen. Aber es ist immer noch besser als freier Mensch zu sterben als ein in Unfreiheit.
Auch in dieser Sache können die Leser ihm folgen. Denn wir glauben an das Recht jedes Menschen, sich frei zu entfalten und ein selbstbestimmtes Leben zu führen.
Sein Mut und seine Lebenswille machen uns neugierig. Wir wollen also, dass Nicolas lebt. Wir sind auf seiner Seite.
Und Nicolas muss fliehen. Diese Szene ist gleichzeitig das auslösende Ereignis der globalen Geschichte. Wäre Nicolas nicht geflohen, würde er auch nicht das Gespräch des General Radulf hören und wüsste dann nicht von der Bedrohung Roms. Er wäre einfach nur gestorben – entweder in der Höhle oder durch das Messer des Wächters. Seine Entscheidung ist also der Auslöser für alles, was folgen wird, was auch im Schlusssatz der Szene gut zusammengefasst ist:
„Doch obwohl ich die Augen schloss und versuchte, immer mehr in der Felsspalte zu verschwinden, wusste ich, dass sich auch mein Leben bald ändern würde.“
Innerhalb dieser ersten Szene haben wir Nicolas kennengelernt und wissen genug über sein Leben, um Empathie zu entwickeln: Er ist Sklave, er hat eine Schwester, für die er sich verantwortlich fühlt, er will in Freiheit leben. Sein Wille zur Freiheit, sein Mut und Humor machen ihn zu einem sympathischen Helden. Aber schon jetzt spüren wir auch: Diese Eigenschaften werden ihn in seinen kommenden Abenteuern sowohl Fluch als auch Segen bringen.
Es gibt so viele Konflikte in der Szene und Nicolas‘ Leben ist auch in der Freiheit so bedroht, dass der Leser neugierig geworden ist. Er will alle Fragen beantwortet haben.
Willst du deine eigene Szene analysiert haben?
Dann sende sie mir an eva@storyanalyse.de. Ich analysiere sie kostenlos für dich, wenn du mit der Veröffentlichung deiner Szene einverstanden bist. Ich stelle sie als Beispiel inklusive meiner Anmerkungen in dieser Kategorie ein. Ansonsten kannst du hier auch die kostenpflichtige, umfassendere Version der Szenenanalyse anfragen.