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Stell dir vor, du sitzt in einem Café und beobachtest eine Frau am Nebentisch. Sie hat ein Buch aufgeschlagen, eine dampfende Tasse Kaffee vor sich, und ihre Augen huschen über die Seiten. Manchmal hält sie inne, manchmal lächelt sie leise, manchmal runzelt sie die Stirn. Diese Frau, nennen wir sie Samantha, kurz Sam, ist der wichtigste Mensch in deinem Leben als Autor. Denn für sie schreibst du. Nicht für Literaturkritiker, nicht für Bestsellerlisten, nicht einmal für dich selbst. Du schreibst für Sam.
Sam steht für Single Audience Member. Das ist die eine Person, für die du deine Geschichte erzählst. Sam ist kein abstraktes Marktsegment oder eine Zielgruppenanalyse auf einem Whiteboard. Sam ist real, lebendig, mit eigenen Hoffnungen und Ängsten behaftet. Vielleicht liest sie abends nach einem langen Arbeitstag, vielleicht in der U-Bahn auf dem Weg zur Uni. Sam hat nicht viel Zeit, aber sie liebt Geschichten. Sie sehnt sich nach Bedeutung, nach Verstehen, nach dem Gefühl, nicht allein zu sein mit dem, was sie bewegt.
Und hier liegt der entscheidende Punkt: Du bist nicht die Heldin deiner Geschichte. Sam ist es. Du bist die Erzählerin oder der Erzähler.
Das ist mehr als nur ein netter Gedanke. Es ist eine fundamentale Erkenntnis, die dein gesamtes Schreiben verändern wird. Wenn du das begreifst, wirst du nie wieder schreiben wie zuvor.
Sam erlebt Geschichten nicht so, wie du sie dir vorstellst. Sie erlebt sie so, wie sie ihr eigenes Leben erfährt: von unten nach oben. Was meine ich damit?
Erst erlebt sie das Körperliche, das Unmittelbare. Dann kommt die emotionale Reaktion. Erst danach sucht sie nach Sinn und Bedeutung. Und schließlich, wenn alles zusammenkommt, erkennt sie sich selbst im Spiegel der Geschichte.
Deshalb beginnt jede starke Szene ganz unten im physischen Raum, in der Bewegung, in konkreten, sinnlich fassbaren Dingen. Nicht in Gefühlen oder Gedanken.
Hier ein schwaches Beispiel, um dir zu zeigen, was ich meine:
Maria war traurig über den Streit mit ihrem Vater. Sie dachte über ihre Kindheit nach und fragte sich, ob sie je wieder ein normales Verhältnis zu ihm haben würde.
Das hier ist schon viel besser:
Maria starrte auf die zerknitterte Postkarte in ihrer Hand. Das Bild der Ostsee, das ihr Vater vor drei Jahren aus dem Urlaub geschickt hatte, war an den Rändern schon gelblich geworden. Sie drehte sie um. Seine Handschrift: Für meine kleine Maus. Das Wort ‘kleine’ hatte er durchgestrichen und ‘große’ darübergeschrieben. Sie zerknüllte die Karte und warf sie in den Mülleimer. Dann fischte sie sie wieder heraus.
Siehst du den Unterschied? Im zweiten Beispiel sieht Sam etwas. Sie kann die Postkarte vor sich sehen, spürt die Zerknitterung des Papiers, erkennt die durchgestrichenen Worte. Sie erlebt Marias inneren Konflikt durch das, was Maria tut, nicht durch das, was sie denkt.
Stell dir vor, Sam betritt eine Szene wie einen Raum. Sie öffnet die Tür, schaut sich um, nimmt die Atmosphäre wahr. Wenn du zu wenig beschreibst, stolpert sie im Dunkeln. Wenn du zu viel beschreibst, bleibt sie gelangweilt an der Schwelle stehen.
Jede Szene ist wie ein Tanz mit Sam. Du führst, aber du überforderst nicht. Du verlockst, ohne sie an der Nase herumzuziehen. Du gibst Hinweise, hältst keine Vorlesungen.
Ein Beispiel aus der Praxis:
Stell dir vor, du willst zeigen, dass deine Protagonistin nervös ist. Du könntest schreiben: Anna war nervös. Aber das wäre, als würdest du Sam anschreien: SIE IST NERVÖS! Sam ist klüger als das. Sie kann selbst erkennen, wie sich Menschen fühlen, wenn du ihr die richtigen Hinweise gibst.
Stattdessen könntest du schreiben: Anna wickelte eine Haarsträhne um den Finger, löste sie wieder, wickelte sie erneut. Der Kellner kam zum dritten Mal vorbei und fragte, ob sie schon bestellen wolle. “Noch zwei Minuten”, sagte sie und schaute zur Tür.
Sam sieht die Nervosität. Sie spürt sie sogar. Und sie fühlt sich klug, weil sie es selbst erkannt hat.
Hier wird es richtig spannend: Sam erlebt die Welt als einen Ort voller Widerstände. Das ist tief in ihr verankert. Sie erkennt sich in Figuren wieder, die nicht einfach bekommen, was sie wollen, sondern die gezwungen werden, sich zu entscheiden, zu handeln, zu scheitern, zu wachsen.
Sam braucht Gegenwind, um zu spüren, dass es um etwas geht.
Dieser Gegenwind hat einen Namen, es ist der Antagonist oder das, was gegen deine Figur arbeitet, sie herausfordert. Und nur wenn deine Figur zurückschiebt, sich wehrt, entsteht ein richtiger Protagonist (oder Protagonistin). Das ist eine Kraft aus dem Inneren, die Ja sagt zu dem, was sie eigentlich nicht will.
Das ist das schlagende Herz deiner Geschichte. Nicht deine brillante Idee, nicht dein poetischer Sprachstil. Sondern dieser Widerstreit zwischen innerem Wunsch und äußerem Druck.
Ein Beispiel: Denk an Harry Potter im ersten Band. Der Antagonist sind Dudley und seine Bande, die Harry über den Schulhof jagen. Harry will nicht verfolgt werden, er will in Ruhe gelassen werden. Aber da ist dieser Druck von außen. Also klettert er auf das Dach (beim Story Grid sagen wir hier: Protagonismus). Das ist eine Handlung, die aus seiner Verzweiflung geboren wird, aber trotzdem sein Entschluss ist.
Sam sieht, wie jemand sich entscheidet. Und sie denkt: “Auch ich könnte mich entscheiden.”
Viele Autoren missverstehen "Show, don't tell" als bloßen Schreibtrick. Aber es ist viel mehr. Beim Story Grid sagenn wir: Es ist ein Akt des Respekts. Du traust Sam zu, dass sie schlau genug ist, deine Zeichen zu lesen. Du traust ihr zu, die Reise selbst zu gehen. Und genau das macht deine Geschichte kraftvoll.
Sam will nicht belehrt werden. Sie will nicht, dass du ihr die Moral der Geschichte auf dem Silbertablett servierst. Sie will es spüren, erleben und selbst herausfinden.
Beobachte einmal gute Szenen in Literatur oder Film: Es ist nicht die Botschaft, die uns fesselt. Es ist der Moment, wenn jemand die Faust ballt. Wenn jemand weint, aber den Blick nicht senkt. Wenn zwei Figuren sich berühren, obwohl sie sich noch vor wenigen Seiten verachtet haben. Die Körper sprechen zuerst. Dann erst begreifen wir, was wirklich passiert.
Sam verarbeitet jede Szene in einer klaren Hierarchie. Als Autor musst du lernen, in derselben Reihenfolge zu erzählen:
Wenn du Sam eine Geschichte erzählst, schenkst du ihr nicht nur Unterhaltung. Du gibst ihr eine Probehandlung, zeigst ihr einen möglichen Weg durchs Leben. Sie kann aus sicherer Entfernung beobachten, was passiert, wenn jemand etwas wagt, scheitert, liebt oder loslässt.
Das ist das wahre Geschenk guter Geschichten: Sam muss es nicht selbst erleben, um etwas darüber zu lernen.
Aber um dieses Geschenk zu überreichen, musst du dich zurücknehmen. Du musst Sam den Raum geben, sich zu bewegen. Du musst bereit sein, deine eigene Brillanz hintenanzustellen, wenn sie Sam nicht dient.
Wenn du nicht weißt, wie du eine Szene beginnen sollst, frag dich:
Wenn du nicht weiterweißt, frag dich:
Deine Geschichte ist kein Vortrag. Sie ist ein Dialog. Auch wenn Sam schweigt, auch wenn du sie nie triffst. Sie ist da. Und sie entscheidet mit jedem Satz, ob sie bleibt oder geht.
Nimm eine Szene, die du kürzlich geschrieben hast. Stell dir vor, Sam liest sie. Ganz konkret. Sie sitzt in ihrem Lieblingssessel, ein Buch in der Hand, draußen prasselt der Regen.
Frag dich:
Dann nimm diese Szene und schreibe sie um. Nicht für dich. Nicht, um zu zeigen, wie gut du schreibst. Sondern einzig und allein für Sam.
Lies sie dir laut vor. Fühl in dich hinein: Würde Sam bleiben?
Hier ist das Paradox, das viele Autoren übersehen: Je mehr du für Sam schreibst, desto mehr findest du zu dir selbst. Deine Stimme wird nicht schwächer, wenn du sie in den Dienst einer anderen stellst. Sie wird klarer, authentischer, kraftvoller.
Denn deine Stimme entsteht nicht im luftleeren Raum. Sie entsteht im Resonanzraum der Beziehung zu Sam. Und je besser du Sam verstehst, desto besser verstehst du auch dich selbst.
Schreib nicht für deine Eitelkeit. Nicht für Kritiker oder Rankings. Schreib für diesen einen Menschen, der deine Worte braucht, um etwas zu erkennen, etwas zu erinnern, sich selbst ein Stück näher zu kommen.
Sam wartet auf deine Geschichte. Sie sitzt da draußen, mit einer Tasse Tee, mit Hoffnungen und Ängsten, mit dem tiefen menschlichen Bedürfnis, sich verstanden zu fühlen. Sie will nicht perfekte Literatur. Sie will wahrhaftige Geschichten. Geschichten, die sie berühren, die sie bewegen, die ihr zeigen, dass sie nicht allein ist.
Und wenn du das schaffst, wenn du wirklich für Sam schreibst, dann wirst du merken: Auch du kommst dir selbst ein Stück näher.