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Leser bleiben wegen der Figuren und nicht wegen der Handlung, las ich neulich in einem Schreibratgeber.
Und ehrlich gesagt, stimmt das sogar. Ein großartiger Plot fesselt uns, aber es sind die Figuren, die wir in unser Herz schließen. Wir folgen ihnen durch Feuer und Sturm, lachen über ihre Macken, verzweifeln an ihren Entscheidungen, weinen mit ihnen in ihren dunkelsten Stunden. Und selbst wenn die Handlung längst zu Ende ist, denken wir noch an sie, so als wären sie echte Menschen, nicht Erfindungen aus Tinte und Fantasie.
Doch wie erschaffen wir solche Figuren? Ich rede nicht von perfekten Helden und Heldinnen oder eindimensionale Antagonisten, sondern von lebendigen, widersprüchlichen Charakteren, die uns überraschen und berühren?
Die Antwort liegt in der Nuance.
Nuance heißt: Tiefe. Widerspruch. Schichten. Eine Figur, die nicht auf den ersten Blick durchschaubar ist. Die sich nicht auf eine Rolle reduzieren lässt. Die uns zwingt, genauer hinzusehen.
In diesem Artikel erfährst du fünf Möglichkeiten, um Figuren mehr Nuance zu verleihen und du bekommst konkrete Schreibaufgaben, um deine eigene Geschichte noch heute zu vertiefen.
Intelligenz ist nicht eindimensional. Sie kann sich in akademischen Abschlüssen äußern, in kreativer Problemlösung, in emotionaler Intuition oder handwerklichem Können. Ein Straßenkind, das jeden Fluchtweg kennt, ist intelligent. Eine brillante Physikerin, die sich in einem Gespräch über Gefühle verliert, verkörpert eine andere Intelligenz. Ein alter Kapitän, der den Sturm kommen fühlt, bevor der Himmel sich färbt, ist intelligent.
Erkenne, wo deine Figur denkt und wo sie scheitert.
Fragen, die dir helfen:
Schreibaufgabe:
Stell dir vor, deine Figur sitzt in einem Raum voller Fremder und muss ein Problem lösen. Was tut sie? Beobachtet sie erst? Redet sie los? Wie reagiert sie auf Widerspruch?
Ergänze dann: Wie beurteilen die anderen sie aufgrund ihrer Reaktion?
Geh jetzt noch tiefer:
Verändere das Genre. Stell dir dieselbe Szene als Romance, als Thriller, als Fantasy vor. Was bleibt gleich und was verändert sich?
Mach eine Mini-Analyse:
Wenn du nach dem Story-Grid arbeitest: Welcher Wert steht auf dem Spiel? (z. B. Kompetenz/Inkompetenz). Wie verschiebt sich dieser Wert innerhalb der Szene
Gefühle sind das Bindeglied zwischen Lesenden und der Figur. Aber nicht jede Figur lässt sich in die Karten schauen. Manche verstecken ihre Angst hinter Witzen. Andere übertreiben bewusst ihre Trauer. Wieder andere benutzen Gefühle wie Werkzeuge.
Beispiel:
Ein Junge, der weint, um seine Mutter davon abzuhalten, ihn in die Schule zu schicken.
Ein Mafiaboss, der sich nie rührt, bis seine Katze bedroht wird.
Eine Kommissarin, die immer „rational“ bleibt, bis der Täter den Namen ihres Sohnes nennt.
Fragen zur Vertiefung:
Schreibaufgabe:
Schreibe eine Szene, in der deine Figur in der Öffentlichkeit mit einem starken Gefühl konfrontiert wird (z. B. Trauer, Angst, Eifersucht). Wie geht sie damit um?
Stelle danach einen inneren Monolog daneben: Was hätte sie eigentlich gefühlt oder gesagt?
Bonusimpuls:
Lass eine zweite Figur dieselbe Szene beobachten und eine völlig andere Interpretation der Gefühle entwickeln.
Vertrauen ist ein zweischneidiges Schwert. Wer vertraut, macht sich verletzlich. Wer misstraut, bleibt einsam.
Was deine Figur glaubt und wem sie glaubt, sagt viel darüber aus, woher sie kommt und wohin sie will.
Typische Konstellationen:
Fragen für dein Figurenprofil:
Schreibaufgabe:
Lass deine Figur vor einer Entscheidung stehen, bei der sie auf eine Information angewiesen ist, die sie nicht prüfen kann. Glaube oder Misstrauen? Schreibe die Szene mit einem Fokus auf Körpersprache, Gestik, inneres Zögern.
Extra-Twist:
Der Lesende weiß, dass das Vertrauen fehl am Platz ist, aber die Figur nicht
Unter Stress zeigen sich die wahren Charakterzüge. In Extremsituationen reagieren Figuren instinktiv und oft völlig anders, als wir erwarten würden.
Erinnere dich:
Schreibaufgabe:
Erfinde eine Szene, in der deine Figur gezwungen ist, in Sekunden zu handeln. Nimm eine Situation, in der niemand sie beobachten kann. Was macht sie wirklich?
Tiefenfrage:
Welche Handlung würde sie später rechtfertigen und welche niemals verzeihen?
Story-Grid-Tipp:
Wendepunkte, bei denen die Figur gegen ihr Selbstbild handelt, sind oft die stärksten. Nutze sie bewusst in deinem globalen Genre.
Wenn deine Figur die Oberhand hat: Wie nutzt sie sie?
Genau in diesen Momenten zeigen sich die tiefsten Schichten eines Charakters. Ein Mensch, der verletzt wurde, dem Unrecht geschah, der alles Recht hätte, zurückzuschlagen, aber es nicht tut. Oder jemand, der Rache übt, obwohl er genau weiß, dass sie ihn nicht heilen wird.
Was passiert, wenn deine Figur Macht hat, über das Schicksal eines Feindes, eines Freundes, oder sogar über sich selbst? Nutzt sie ihre Überlegenheit für Gerechtigkeit, für Gnade oder für einen ganz eigenen Maßstab?
Beispielhafte Konstellationen:
Vertiefende Fragen:
Schreibaufgabe:
Schreibe eine Szene, in der deine Figur jemandem gegenübersteht, der ihr schwer geschadet hat und sie hat alle Mittel, um zurückzuschlagen.
Was tut sie? Was sagt sie? Was denkt sie direkt danach?
Bonus:
Lass die Szene von einem unbeteiligten Dritten beobachten. Was sieht dieser und was bleibt ihm verborgen?
Story-Grid-Tipp:
Solche Szenen eignen sich hervorragend für den inneren oder äußeren Klimax. Überlege: Welcher zentrale moralische Wert verschiebt sich? Zeigt sich hier der Moment der wahren Transformation?
Nuancen entstehen nicht durch das Auflisten von Eigenschaften oder gut gemeinten Biografien. Vielschichtigkeit entsteht durch Widerspruch, durch Verhalten in Extremsituationen, durch Entscheidungen, die teuer bezahlt werden, sowohl innerlich als auch äußerlich.
Du brauchst keine „perfekten“ Figuren. Du brauchst Figuren, die überraschen. Die sich verändern. Die etwas zu verlieren haben. Und genau dadurch deine Lesenden gewinnen.