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Ein Roman ist wie ein Fluss. Die Hauptströmung treibt die Geschichte voran, trägt den Leser von der ersten Seite bis zum großen Finale. Nebenhandlungen sind die kleinen Seitenarme. Sie können das Wasser bereichern, neue Perspektiven eröffnen, die Tiefe des Flusses erweitern. Doch wenn sie zu stark werden, reißen sie die Geschichte mit sich. Der Leser verliert den roten Faden. Das Buch verliert an Kraft. Die Strömung zeigt dann gefährliche Strudel.
Ich habe neulich einer meiner Autorinnen geraten, eine große Nebenhandlung zu streichen. Eine mühsame Aufgabe. Kapitel um Kapitel musste umgeschrieben werden. Figuren verloren ihre Daseinsberechtigung, Dialoge wurden hinfällig, Spannungsbögen mussten neu gezogen werden. Aber es war die richtige Entscheidung. Sie hatte sich in Erzählsträngen verloren, die mehr verwirrten als bereicherten.
Nebenhandlungen sind tückisch. Sie beginnen harmlos. Eine Figur tritt auf, die gar nicht geplant war, aber plötzlich interessant scheint. Ein kleines Detail wächst und fordert Aufmerksamkeit. Ein Ereignis im Hintergrund bekommt zu viel Raum. Und plötzlich steht der Fluss still, weil zu viele Nebenströme um die Richtung ringen.
Wie also entscheidet man, ob eine Nebenhandlung den Roman stärkt oder ihn aufhält? Diese fünf Fragen helfen, den richtigen Kurs zu finden.
Ein Roman darf keine überflüssigen Seiten haben. Jedes Kapitel, jede Szene muss eine Funktion erfüllen. Nebenhandlungen sind dann wertvoll, wenn sie etwas Neues einbringen. Sie dürfen nicht bloß eine Wiederholung der Haupthandlung sein – nur in anderer Verpackung.
Ein Thriller, in dem der Protagonist zweimal eine Geiselnahme übersteht, ohne dass sich dadurch etwas verändert, verliert an Spannung. Ein Liebesroman, in dem die Heldin mehrfach denselben Streit mit unterschiedlichen Nebenfiguren austrägt, wird eintönig.
Beispiel:
Ein Detektiv sucht einen Mörder. Er hat eine Nebenhandlung, in der er sich mit seiner Schwester versöhnt. Wenn diese Versöhnung keine Auswirkungen auf den Fall hat, verlangsamt sie nur die Erzählung. Wird die Schwester aber bedroht, weil der Detektiv zu nah an der Wahrheit ist, dann hebt diese Nebenhandlung die Geschichte auf ein neues Niveau.
Frage dich:
Wenn keine dieser Fragen mit Ja beantwortet werden kann, ist die Nebenhandlung vielleicht nur Ballast.
Geschichten leben von Konflikten. Eine Nebenhandlung ist dann stark, wenn sie die Hauptgeschichte verschärft, die Figur vor neue Herausforderungen stellt oder den Druck erhöht.
Beispiel:
Ein Fantasy-Roman. Der Held sucht ein magisches Amulett, das die Welt retten soll. Nebenbei hilft er einem Bauern, seine entführte Tochter zu finden. Nett, aber ohne Bedeutung für die Haupthandlung.
Besser: Die Tochter wurde von denselben Kreaturen verschleppt, die auch das Amulett bewachen. Jetzt gibt es zwei Gründe, sich der Gefahr zu stellen. Die Spannung steigt. Der Held hat jetzt noch mehr zu verlieren.
Frage dich:
Wenn eine Nebenhandlung die Geschichte nicht gefährlicher, intensiver oder spannender macht, dann kann sie gestrichen werden.
Ein Roman hat eine klare Richtung. Wenn eine Nebenhandlung so groß wird, dass der Leser den Hauptkonflikt vergisst, läuft etwas falsch.
Beispiel:
Ein historischer Roman über eine Widerstandskämpferin im Zweiten Weltkrieg. Nebenbei gibt es eine ausführliche Nebenhandlung über einen jüdischen Musiker, der fliehen muss. Seine Geschichte ist emotional, seine Reise spannend – und plötzlich fühlt sich der eigentliche Roman an wie ein Nebenstrang.
Lösung:
Vielleicht gehört die Geschichte des Musikers in ein eigenes Buch. Oder sie wird reduziert, sodass sie die Haupthandlung ergänzt, anstatt sie zu verdrängen.
Frage dich:
Wenn eine Nebenhandlung spannender ist als die Hauptgeschichte, könnte das bedeuten, dass sie die wahre Geschichte ist, die erzählt werden will.
Ein gutes Buch ist mehr als nur Handlung. Es geht um ein Thema, eine Entwicklung, eine Veränderung. Eine Nebenhandlung kann dabei helfen, dieses Thema zu vertiefen – oder sie kann den Fokus verwässern.
Beispiel:
Ein Roman über Selbstfindung. Die Protagonistin muss lernen, für sich selbst einzustehen. Eine Nebenhandlung zeigt, wie sie mit einem alten Nachbarn streitet, der seinen Garten ungepflegt lässt. Nett, aber bedeutungslos.
Besser: Der Nachbar verlangt von ihr, für ihn einzukaufen, und sie merkt, dass sie sich aus Gewohnheit nicht traut, Nein zu sagen. Jetzt ist die Nebenhandlung ein Spiegel ihres inneren Konflikts.
Frage dich:
Wenn nicht, könnte sie überflüssig sein.
Die wichtigste Frage. Wenn die Nebenhandlung keine Auswirkungen auf das Ende des Romans hat, ist sie vielleicht nicht nötig.
Beispiel:
Ein Science-Fiction-Roman. Die Heldin kämpft gegen ein korruptes System. Nebenbei hilft sie einem alten Mann, seine entführte Tochter zu finden. Aber ob sie hilft oder nicht, hat keinerlei Einfluss auf den Ausgang des großen Konflikts.
Besser: Der alte Mann entpuppt sich als Schlüsselfigur, die ihr eine entscheidende Information gibt. Oder seine Tochter ist diejenige, die die entscheidende Aktion auslöst. Jetzt hat die Nebenhandlung einen Sinn.
Frage dich:
Wenn die Antwort dreimal Nein lautet, könnte sie gestrichen werden. Sorry, das tut weh, aber es ist wahr.
Fazit: Nebenhandlungen bewusst steuern
Nebenhandlungen sind mächtig. Sie geben Tiefe, bringen Überraschungen, machen eine Welt lebendiger. Doch sie müssen mit Bedacht eingesetzt werden. Ein Roman sollte wie ein gut komponiertes Musikstück sein. Jedes Instrument hat seinen Platz, jedes Motiv unterstützt die Gesamtmelodie. Eine Nebenhandlung ist keine Soloeinlage, die das Hauptthema verdrängt. Sie ist ein Klang, der das große Ganze bereichert.
Schau auf deine Geschichte. Überprüfe deine Nebenhandlungen. Frage dich, ob sie die Geschichte tragen oder sie aufhalten. Und wenn du merkst, dass du dich in einem Seitenarm verlaufen hast – dann sei mutig. Schneide, was nicht gebraucht wird. Denn am Ende zählt nur eines: dass der Leser mitgerissen wird. Von der ersten Seite bis zum Schluss.
Eva Maria Nielsen – Autorin, Schreibcoach und Story Grid Expertin
Ich bin Hybridautorin und erfahrene Schreibcoachin und Lektorin, habe mich das auf Story Grid und das therapeutisches Schreiben spezialisiert. Mit meinem Wissen über Storytelling-Techniken unterstütze ich Autoren und Autorinnen, ihre Geschichten zu strukturieren und ihre Kreativität zu entfalten. Im Bookerfly Buchclubs liese und lerne ich von Bestsellern aus verschiedenen Genres.
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