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Deine Geschichte handelt immer von dir. Das ist die eine Wahrheit, die ich dir verraten möchte. Die andere ist – und vielleicht verstört es dich: Sie handelt nie von dir. Dieser Blogartikel ist sehr persönlich, ich teile ihn mit dir, weil ich mir sicher bin, dass er dich in deinem Schreiben weiterbringen kann.
Deine Geschichte, sogar wenn du autobiografisch schreibst, handelt nie von dir. Sie bezieht sich auf Ereignisse und Umstände in deinem Leben; sie handelt von deiner emotionalen Reise. Aber es geht nie darum, was dir zugestoßen ist. Deinen Lesern geht es nur um dies:
Wie kann das, was dir passiert und was du erlebt hast, Licht auf das werfen, was anderen widerfährt? Welche Antworten hast du auf meine Fragen?
Wenn du jetzt glaubst, dass ich mich irre, dann lies einfach mal C.G.Jung oder Joseph Campbell, die sich mit dem kollektiven Unbewusstsein beschäftigt haben, das uns alle miteinander verbindet. Wie tief unsere Themen uns aber beeinflussen, habe ich erst jetzt bemerkt. Es dauert immer, bis ein Wissen vom Kopf bis ins Herz wandert und dann auch deine Wahrheit wird. Zumindest bei mir.
Wenn ich erzähle, dass ich eine Woche, nachdem ich mein Exposé beim Verlag eingereicht hatte, eine Zusage hatte und wenn ich dann noch hinzufüge, dass die meisten Reaktionen auf mein Buch Auf Wiedersehen, kleiner Bruder positiv ausfallen, dann staunen viele. Ich selbst auch.
Ich habe mir Gedanken gemacht, warum das so ist, und glaube, dass ich die Lösung gefunden habe. Die möchte ich gern mit dir teilen, denn so kommst du deinem Herzenswunsch näher, deine Leser zu erreichen und zu berühren.
Meine ersten Bücher drehen sich immer wieder um das Thema Heimat. Sogar im Kinderbuch Spensa ist das der Fall. Es geht um das dazu gehören.
Heimat oder der Verlust der Heimat, das war das Trauma meines Vaters. Der Verlust der Heimat hing wie eine graue Wolke über unserer Familie. Mein Vater war ein Heimatvertriebener, der niemals seinen Verlust be- oder gar verarbeiten konnte und der sich nach dem Riesengebirge Schlesiens verzehrte. Manchmal grub sich die Trauer wie ein Bergkrater in sein Gesicht, vor allem an Weihnachten, wo er für uns Kinder oft ganz unmotiviert in Tränen ausbrach und wir uns fragten: „Was haben wir denn jetzt falsch gemacht?“ Sein Schmerz ätzte sich in meine Seele. Kinder sind oft die Blaupausen ihrer Eltern. Damals wollte ich ihm nah sein, trösten und ihn verstehen. Er hatte so viel Liebe und die wollte ich ihm zurückgeben. Aber es war unmöglich, durch diese Wand der Schmerzen durchzubrechen. Da war ganz viel Ohnmacht auf beiden Seiten.
Nach dem Abitur bin ich sofort aus Deutschland weggegangen, erst einige Jahre nach Frankreich, dann nach Dänemark. Die Anlässe scheinen nichts mit meinem Vater zu tun zu haben, aber auf einer tieferen Ebene haben sie das. Ich wollte den Schmerz meines Vaters am eigenen Leib spüren.
Wie ist das, wenn man alles Vertraute verliert? Wie ist das, wenn Familie und Freunde nicht mehr erreichbar sind? Wie ist das, wenn ich ganz auf mich allein gestellt bin? Wie ist das, wenn ich in der Fremde bin? Wie ist das, wenn mein vertrautes Netzwerk, meine vertraute Welt nicht mehr da ist? Wie ist das, wenn man etwas verliert, das einem ans Herz gewachsen ist?
Natürlich wusste ich: Es gab keinen Vergleich zu der Situation meines Vaters. Ich ging freiwillig, er wurde vertrieben; ich konnte zurück, das war ihm verweigert. Aber so konnte ich zumindest einige seiner Gefühle ertasten und mich ihm verbunden fühlen.
Als Hörbehinderte fühlte ich als Kind außen vor. Für Kinder ist das schwer. Sie haben nur diesen Wunsch: dazu gehören. Wenn man dazu gehört, weiß man auch ohne Worte: Du bist gut genug. Wir mögen dich. Du brauchst dich nicht anzustrengen. Wenn nicht, dann bleibt das Gefühl: nicht gut genug. Du gehörst nicht dazu. Denn du bist anders. Du bist komisch. Mit dir will ich lieber nichts zu tun haben. Einen Ort zu haben, wo man dazu gehört, das ist ein menschlicher Trieb, es ist ein universeller Wunsch, der uns alle antreibt. Wir wünschen uns, zu einer Gruppe dazuzugehören. Die Bücher waren – bis auf Spensa – ganz sicher auch eine Spielwiese für meine Stimme, und ich würde sie heute anders und besser schreiben. Aber was war bei Leo und Paul aus „Auf Wiedershen, kleiner Bruder“ anders?
Erst einmal: Das Buch war sehr lange unterwegs. Es hatte Zeit zum Reifen, aber das ist nicht der eigentliche Grund.
Ich spüre es ganz tief: es greift mein eigenes Herzensthema auf, das ich lange übersehen habe. Dieses Herzensthema ist auch ein universelles Thema.
Ich habe nie ein Geschwister verloren, es ist also kein persönliches Erlebnis, sondern ein Thema, das ich in Leos Geschichte verarbeite. Und trotzdem verarbeite ich hier auch zusammen mit Leo mein ganz persönliches Herzensthema. Wichtig ist hier, dass mein individuelles Thema mich für ein universelles sensibilisiert hat. Nur darum kann die Geschichte des Teams Vittoria nun die Herzen der Leser berühren.
Jeder Mensch hat eine Sehnsucht, als der Mensch gesehen zu werden, der er ist. Seinen Platz zu erhalten, mit den Fertigkeiten und Talenten, die man hat, mit den Macken und Fragen und eben schlichtweg als der gesehen zu werden, der man ist.
Das ist auch mein tiefster Wunsch. Oft habe ich immer wieder erlebt, dass man mich nicht als den Menschen sieht, der ich bin – weder in der Schule, in meiner Familie, am Arbeitsplatz … Erst spät habe ich mir diesen Freiraum eingefordert.
Dieser Schmerz, der das „übersehen-werden“ mitführt, hat mich sensibilisiert für Menschen, die nicht gesehen werden, Menschen wie Leo.
Dieses Thema handelt auch von der Heimat. Denn wenn wir als die Menschen gesehen werden, die wir sind, dann erleben wir Heimat. Dann kommen wir an. Dann sind wir dort, wo wir sein sollten, geliebt, gesehen … eben Zuhause.
Aber dieser Tagebucheintrag hat mir die Augen geöffnet:
„Gerade in meiner Verletzlichkeit kann ich andere heilen. Ich kann meine Leser nur so weit mitnehmen, wie ich selbst gegangen bin. Nicht um über meinen Schmerz zu schreiben, sondern von dem Schmerz ausgehend immer für andere zu schreiben.“
Egal, was wir schreiben – das gilt für alle Genres, aber vor allem auch für Memoiren und Autobiografien – dürfen wir niemals vergessen, dass immer für andere schreiben. Sogar dann, wenn wir von unserer Biografie ausgehen. Der Trick beim Schreiben deiner Biografie ist es, deine Geschichte mit der Geschichte des Lesers zu verknüpfen. Wenn du das erst einmal verstanden hast, dass es sich bei deinem Leben nur um einen Bruchteil deines individuellen Ausdrucks des menschlichen Seins handelt, ist es einfach zu akzeptieren.
Dann weißt du auch: Die Mühe, diese deine ganz persönliche Geschichte festzuhalten und aufzuschreiben, lohnt sich. Das ist deine Geschichte wert. Sie verdient es, erzählt zu werden. Deine Leser werden etwas Bedeutsames in der Geschichte oder deinen Erfahrungen finden können. Deine Geschichte hat die Kraft, das Leben von jemand anderem zu verändern.
Frag dich doch jetzt einfach mal: Was ist dein Herzensthema? Welche ganz persönliche Erfahrung kannst du wie eine Prise in deine Texte einstreuen, damit du ihnen mehr Würze verleihst? Denn nur, wenn du deine Geschichten mit deiner Stimme und deiner gesammelten Lebensweisheit erzählst, hast du auch etwas zu sagen.
Hab keine Angst, vor deinem Thema. Auch wenn es vielleicht schmerzt, es ist deine ganz persönliche Stimme.
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