Der Artikel ist Teil der Erkenntnisse des Story Grid.
© Story Grid, Shawn Coyne
Lust darauf, ein soziales Drama zu schreiben?
Shawn Coyne und Robert McKee bezeichnet soziale Dramen als das Gesellschafts-Genre. Die Handlung wird von großen Ideen angetrieben und eine bestimmte Sichtweise und/oder ein Argument wird zu einem politischen Zweck verfolgt.
In diesem Beitrag möchte ich mich intensiv mit dem Genre Gesellschaft auseinandersetzen und dir einen Leitfaden an die Hand geben, wie du selbst Geschichten wie ›Der Pate‹ oder George Orwells ›Farm der Tiere‹ schreiben kannst.
Übersicht
- Was ist das Gesellschafts-Genre?
- Was steht in einer Gesellschaftsgeschichte auf dem Spiel?
- Die Botschaft der Gesellschaftsgeschichte
- Was sind die obligatorischen Szenen einer Gesellschaftsgeschichte?
- Was sind die Konventionen der Gesellschaftsgeschichte?
- Was treibt eine Geschichte über Gesellschaft wirklich an?
- Was sind die untergeordneten Genres der Gesellschaftsgeschichte?
- Was ist der Unterschied zwischen einer Status- und einer Gesellschaftsgeschichte?
Was ist das Gesellschafts-Genre?
Ich habe mir die Bezeichnung nicht ausgedacht. Vielmehr liegt die Erforschung des Gesellschafts-Genres den Studien von Shawn Coyne und Robert McKee zugrunde.
»Dieses Genre identifiziert die Probleme in der Gesellschaft – sei es Armut, das Bildungssystem, asoziales Verhalten ... – und erschafft eine Geschichte, welche eine Heilung für das Problem darstellt.« Robert McKee
»Das Gesellschafts-Genre ist eine Allegorie für Macht und Lügen ... ein Miniplot (mehrere Protagonisten) im externen Genre, das in einem revolutionären Ereignis mündet, wenn sich die Macht von einem Segment der sozialen Ordnung zu einem anderen Segment verlagert. Geschichten über die Gesellschaft, wie bei Kriegsgeschichten, nutzen eng begrenzte Handlungskurven in stark konzentrierten Subgenres, um globale soziale Machtkämpfe darzustellen. Selbst die epischen Gesellschaftsgeschichten fokussieren einen tiefen persönlichen und spezifisch menschlichen Konflikt.« Shawn Coyne
Grundlegend ist eine Gesellschaftsgeschichte nichts anderes, als eine Rebellion. Es ist eine Geschichte von Untergebenen, die ihre Unterwerfer konfrontieren.
Diese Gruppen können sowohl politisch oder sozioökonomisch sein, als auch können sie sich auf eine Familie oder eine kleine soziale Gruppierung begrenzen.
Außerdem repräsentieren die Figuren in einer Gesellschaftsgeschichte Aspekte des Protagonisten.
Menschen mögen Gesellschaftsgeschichten, weil sie sehen wollen, wie Unrecht richtiggestellt wird.
Man möchte eine Gesellschaftsgeschichte lesen, weil man an dem Gefühl von Angst, den Intrigen und dem Antrieb der Rebellion gegen ein System teilnehmen möchte, ohne lebensnahe Konsequenzen erfahren zu müssen.
Was steht in einer Gesellschaftsgeschichte auf dem Spiel?
Was in einer Gesellschaftsgeschichte auf dem Spiel steht, beschreibt gleichzeitig den Wandel des Protagonisten vom Anfang zum Ende der Geschichte. Die beiden Werte lauten: Machtlosigkeit und Macht.
Natürlich gibt es auch in diesem Genre etwas, dass noch schlimmer als nur Machtlosigkeit ist. Es ist das Unwohlsein, dass sich als Kraft und Macht tarnt.
Tipp: Wenn eine Figur vorgibt, Macht zu haben, aus reinem Eigeninteresse, dann ist dieses Vorhaben schlimmer, als der Versuch nach wahrer Macht zu streben und dabei zu scheitern.
Was ist die kontrollierende Idee der Gesellschaftsgeschichte?
Die kontrollierende Idee ist die Lektion, die der Leser durch die Geschichte lernen soll. Es ist die Bedeutung, welche die Geschichte erreichen soll.
Die Botschaft der Geschichte kann entweder positiv oder negativ ausfallen.
Weitgefasst träge eine positive Gesellschaftsgeschichte die folgende Botschaft:
Wir gewinnen Macht, wenn wir die Heuchelei der Tyrannen aufdecken.
Die Botschaft der negativen Gesellschaftsgeschichte klänge: Tyrannen schlagen die Rebellion zurück, wenn sie die Führer der Untergebenen auf ihre Seite bekommen.
Tipp: Du formulierst die Botschaft nur für dich, um beim Schreiben das Thema im Auge zu behalten, mit dem du dich auseinandersetzen möchtest.
Was sind die obligatorischen Szenen einer Gesellschaftsgeschichte?
Nach Shawn Coyne sind Pflichtszenen »die Szenen in einer Geschichte, welche die Erwartungen der Leser erfüllen, die durch die Konventionen des Genres vorbereitet werden.«
1. Die herrschende Macht erfährt eine Bedrohung oder eine Herausforderung.
Tipp: Macht wird in der Regel von einer antagonistischen Figur verkörpert. Selbst wenn dein Antagonist nur eine Kraft ist, so gibt es jemanden, der die Regeln durchsetzt, und der den Protagonisten daran hindert, dass zu bekommen, nachdem er strebt.
2. Der Protagonist ist eine untergebene Person, die sich zunächst weigert, Verantwortung zu übernehmen oder sich dem Antagonisten (der herrschende Macht) zu widersetzen.
Tipp: Diese Szene ist wie bei der Heldenreise, wenn der Held zunächst den Ruf des Abenteuers verweigert.
3. Die Protagonisten werden zu einer Reaktion gezwungen und agieren im Sinne ihrer Position in der Machthierarchie.
4. Der erste Versuch der Protagonistin schlägt fehl, wo er versucht hat, den Antagonisten zu übertrumpfen.
5. Die Protagonisten erfahren, was das Objekt des Verlangens des Antagonisten ist, und sie versuchen es, selbst zu bekommen.
Tipp: Das Objekt des Verlangens ist in der Gesellschaftsgeschichte etwas, dass die Figuren als den Schlüssel zur Macht ansehen. Die Antwort ist meist eher die externe, weltliche Macht als persönliche Macht.
6. Im Alles-Ist-Verloren Moment realisieren die Protagonisten, dass sie ihren Ansatz ändern müssen, um die Macht vom Antagonisten auf sich selbst zu übertragen.
7. In der Szene der Revolution zeigen die Protagonisten ihre ›Gabe‹.
Diese Szene ist das Kernereignis und der Höhepunkt einer jeden Gesellschaftsgeschichte, wo Macht entweder von den Meistern auf die Untergebenen übertragen wird (Protagonisten siegen) oder wo die Unterwerfer ihre Macht behalten (Protagonisten verlieren). Auf alle Fälle wird klar herausgestellt, wer die Gewinner und Verlierer sind.
8. Egal, ob die Protagonisten siegreich waren oder ihre Mission in der Revolution fehlschlug, sie werden auf einem inneren, zwischenmenschlichen oder externen Level belohnt.
Was sind die Konventionen der Gesellschaftsgeschichte?
Warum brauchen wir Konventionen überhaupt?
Shawn Coyne erklärt Konventionen wie folgt: »Konventionen sind Elemente in einer Geschichte, welche vorhanden sein müssen oder der Leser wird verwirrt, verunsichert oder so gelangweilt, dass egal wie wohlklingend die Sätze sind, er das Buch weglegt. Konventionen sind keine Pflichtszenen, aber sie sind besondere Anforderungen an die Figuren der Geschichte und an die Methoden, wie man die Handlung vorantreibt (kleine Wendepunkte durch Offenbarungen, die da sein müssen, und welche durch den Autor diskret in die Geschichte gewebt werden können).«
Die Konventionen der Gesellschaftsgeschichte unterscheiden sich je nach der Art des untergeordneten Genres. Generell haben die Subgenres jedoch diese Konventionen gemeinsam:
Es gibt eine zentrale Figur, wobei die Nebenfiguren eine Charaktereigenschaft des Protagonisten verkörpern.
Zum Beispiel wird in ›Der Pate‹ der Charakter von Michael Corleone durch die unterstützenden Nebenfiguren ausgedrückt.
Es gibt eine große Leinwand, auf der die Geschehnisse stattfinden.
Entweder bezieht sich das Setting auf eine weitreichende Umwelt wie z.B. die historisch-soziale Umgebung von Ragtime (Doctorow) oder dem Filmdrama Amistad – das Sklavenschiff, oder auf die zwischenmenschliche Landschaft wie in der Familiendarstellung von Eines langen Tages Reise in die Nacht (O’Neill).
Es gibt einen großen Unterschied im Machtverhältnis zwischen denen, die Macht besitzen, und denjenigen, die machtlos und ohne Rechte sind.
Der Leser kann diesen Unterschied klar erkennen. (In Game of Thrones möchte Daenerys Targaryen der Sklaverei in den Skalvenstädten wie Mereen ein Ende bereiten. Hier wird die Macht ganz klar in die Meister und die Sklaven geteilt.)
Es gibt einen klaren revolutionären Punkt, wo es kein Zurück mehr gibt.
Es ist der Moment, wenn sich die Machtverhältnisse ändern. Dieser Moment ist klar definiert und dramatisiert. Es ist das große Ereignis – der Höhepunkt (z.B. Sklaven gewinnen ihre Freiheit.)
Die besiegte Gruppe stirbt, wird ins Exil verwiesen oder wird unterworfen.
[Spoiler Game of Thrones: Daenerys Anführer der Second Sons (Zweiten Söhne) tötet in Staffel 6 zwei der drei Meister. Der dritte wird am Leben gelassen, um den anderen Meistern zu berichten, was mit denjenigen geschieht, die sich gegen Daenerys wenden.]
Das Ende gleicht einem Paradox.
Entweder ist es eine Gewinnen-aber-Verlieren oder eine Verlieren-aber-trotzdem-Gewinnen Situation für die Protagonisten. (In Themla und Louise fuhren die beiden über die Klippe und starben. Aber sie haben sich bis zum letzten Moment gegen das Patriarchat gewehrt und konnten somit an ihrer Freiheit festhalten.)
Tipp: Lass deine Protagonisten im primären Genre erfolgreich sein, aber im zweiten, unterstützenden Genre verlieren – oder andersherum. Egal, wie du es drehst, in jedem Fall ist das, was sie verlieren, charakteristisch für die Opfer, die sie bei den Versuchen, erbracht haben, Macht und Wohlstand zu erlangen.
Was treibt eine Geschichte über Gesellschaft wirklich an?
Betrachten wir hierzu die Bedürfnispyramide von Maslow, erkennen wir, dass sich das Genre Gesellschaft im Bereich Anerkennung einreiht.
Das bedeutet, hier befinden sich die menschlichen Bedürfnisse für Selbstrespekt und die Anerkennung von anderen Personen.
Der Bereich der Anerkennung ist die Schnittstelle zwischen den externen Genres (angetrieben von einem Konflikt, der außerhalb des Protagonisten liegt) und den internen Genres (angetrieben von einem Konflikt, der im Protagonisten selbst liegt).
Der externe Konflikt entsteht durch die Beurteilung der Gesellschaft, was der Protagonist wert ist.
Was sind die untergeordneten Genres der Gesellschaftsgeschichte?
Die häusliche Geschichte
Dieses untergeordnete Genre beschäftigt sich mit Familienproblemen, bei denen die externe, gesellschaftliche Beurteilung und die unterschiedlichen Machtverhältnisse innerhalb der Familie selbst liegen.
Die häusliche Geschichte dreht sich um die Familiendynamik. Die Frage besteht zwischen dem Wohl des Einzelnen vs. dem Familienzusammenhalt.
Der Höhepunkt dieser Geschichte ist die Konfrontation zwischen dem Familienmitglied, das die Kontrolle hat (Vater, Mutter, ...) und dem rebellierenden Familienmitglied.
Shawn Coyne benannte als Paradebeispiel für dieses Genre die Geschichte: Eines langen Tages Reise in die Nacht. Alle Mitglieder der Familie sind sowohl Täter der Repression als auch deren Opfer und stecken in einer unausweichlichen Qual. Wichtig jedoch ist, dass sie zusammen in dieser Misere sind.
Die Frauengeschichte
Die Frauengeschichte konzentriert sich auf feministische Themen. Hier liegt die externe, gesellschaftliche Beurteilung in dem Machtunterschied und dem Kampf zwischen Frauen und dem herrischen Patriarchat.
Die Werte sind hier gleich dem des Gesellschafts-Genres: Macht/Machtlosigkeit, obwohl man es auch mit Feminismus/Patriarchat beschreiben kann.
Der Höhepunkt der Geschichte ist die Rebellion oder die Unterwerfung der Protagonisten/-in.
Beispiele sind: Anna Karenina sowie Thelma and Louise.
Die biographische Geschichte
Die biografische Geschichte kann sich durch das Thema unterscheiden, auf das man sich konzentrieren möchte. Meist nutzt man hier ein geschichtliches Individuum als eine Schlüsselfigur der großen politischen Leinwand.
Die Geschichte kann die Dynamik einer Performance-Geschichte besitzen, um die Erzählung einer Lebensgeschichte zu unterstreichen.
Die Figur ist dem sozialen Urteilsvermögen und einem Machtungleichgewicht unterworfen – etwa aufgrund von Rasse, sozialer Klasse oder dem negativen Urteil eines Ereignisses aus der historischen Geschichte.
Lincoln und Burr sind gute Beispiele.
Die politische Geschichte
Die politische Geschichte dreht sich um Korruption und ideologische Veränderungen, bei denen eine reale oder fiktive Revolution stattfindet, bei der die anfangs Unterworfenen genauso korrupt werden, wie diejenigen, die sie der Macht beraubt haben.
Politisch handelt immer von dem Kampf um Macht.
Der Höhepunkt der Geschichte ist der Moment, wo Macht entweder gewonnen oder verloren wird. Der Pate ist zwar eine Geschichte um Verbrechen, aber es ist gleichzeitig auch ein politisches Drama. Wir sind auf der Seite von Michael Corleone, und bangen für ihn, dass er die gegnerischen fünf Familien besiegt und die Macht wiedererlangt, die er mit dem Tod seines Vaters verloren hatte.
Beispiele sind: Der Pate, Farm der Tiere oder Wiedersehen in Howards End.
Die historische Geschichte
Die historische Geschichte konzentriert sich auf ein großes soziales Machtungleichgewicht wie Sklaverei, Klassenkonflikte oder Kolonialismus. Was hier auf dem Spiel steht, hängt also von der Epoche ab, in der die Geschichte spielt.
Tipp: Wenn man sich für die historische Geschichte im Gesellschafts-Genre entscheidet, sollte man beachten, dass die Botschaft der Geschichte auf die Gegenwart angewandt werden kann. Die Verwendung historischer Details ermöglicht es dem Autor, durch das Prisma der Vergangenheit ein bestimmtes Tabu oder einen sehr aufgeladenen Moment im gegenwärtigen Leben zu kommentieren.
Tipp: Jedes der vier zuvor genannten Genres kann auch in einem historischen Umfeld stattfinden.
Beispiele sind hier die epischen Romane von Ken Follett oder Edward Rutherford.
Was ist der Unterschied zwischen einer Status- und einer Gesellschaftsgeschichte?
Eine Statusgeschichte handelt von Personen, die ihren Weg in der Gesellschaft gehen und dabei entweder ihren Rang/Status verlieren oder in der Gesellschaft aufsteigen. Die Gesellschaft bleibt hier, wie sie ist.
Das primäre Ereignis in einer Statusgeschichte ist der Moment, wenn sich der Protagonist dazu entschließt, einen höheren Stand zu erlangen, oder er die Ebene ablehnt, der er angehören wollte. Es kommt zu keiner Revolution und keinem Wandel der Machtverhältnisse.
Außerdem können Statusgeschichten ein Mini-Plot oder nach der Heldenreise aufgebaut sein – nicht jedoch die Gesellschaftsgeschichten.
Statusgeschichten drehen sich um Erfolg und Misserfolg, während sich Gesellschaftsgeschichten um Macht und Machtlosigkeit drehen.
Was kannst du jetzt noch tun?
Wie immer rate ich dir, dass du dir die Meisterwerke dieses Genres ansiehst oder die Romane liest. Erst, wenn man Beispiele gesehen hat, kann man all diese Informationen hier besser verstehen und auf seinen eigenen Roman anwenden.
Tipp: Wenn du als Rebellautor erfolgreich sein willst, dann nutze dein Wissen über gesellschaftliche Rahmenbedingungen und die menschliche Psychologie, um Veränderungen zu bewirken.
Wir alle sehnen uns mehr oder weniger nach einer Veränderung in der Gesellschaft. Wenn es deine Intention ist, eine Revolution herbeizuführen oder auf ein politisches Problem aufmerksam zu machen, dann ist das Gesellschaftsgenre das passende Genre für dich.
Was denkst du zu diesem Beitrag und dem Genre Gesellschaft?
Lass es mich in den Kommentaren wissen. Danke.