Der Artikel ist Teil der Erkenntnisse des Story Grid.
© Story Grid, Shawn Coyne
Suchst du nach der Antwort auf die Frage, wie man seine Leser am Haken packt und bis zum Ende der Geschichte in ihrem Bann hält?
Wenn ja, dann hast du gerade deine Antwort gefunden. Sie lautet: Nutze "Narrative Drive", sprich eine Art "Erzählantrieb" oder '"Narrativer Antrieb".
In diesem Beitrag erhältst du Klarheit, was mit einem erzählerischen Antrieb gemeint ist, und welche drei Erzählmittel dir zur Verfügung stehen, um deine Leser mit deiner Geschichte zu verzaubern.
Übersicht des Inhalts:
- Technik: ein Geheimnis / ein Rätsel einbringen
- Technik: Spannung aufbauen
- Technik: dramatische Ironie schaffen
1. Definition: Erzählerischer Antrieb (Narrative Drive)
Vielleicht hast du schon von dem Konzept der Fokalisierung von Gérard Genette gehört.
Der erzählerische Antrieb ist nur eine andere Art der Bezeichnung dieses Konzepts. Ich mag den englischen Namen "Narrative Drive", weil dieser den Zweck dieses Konzepts auf den Punkt bringt.
Hier geht es darum, die Geschichte spannend zu halten, indem man mit der Frage spielt, wie viele Informationen ein Leser in Bezug auf den Protagonisten hat.
Die drei möglichen Optionen unterscheiden sich in der Menge an Informationen, die der Leser in Bezug auf den Protagonisten hat sowie in der Wirkung, die sie auf den Leser haben.
- Ein Mysterium (Mystery) ist, wenn der Protagonist mehr weiß als der Leser.
- Spannung (Suspense) liegt vor, wenn der Protagonist und den gleichen Kenntnisstand haben.
- Dramatische Ironie (Dramatic Irony) heißt, der Leser weiß mehr als der Protagonist.
Jede dieser drei Optionen löst beim Leser eine andere Reaktion aus. Wenn du sie einsetzen willst, musst du wissen, welche Fragen du aufwerfen willst, wie viele Informationen du offenbarst und wann du sie preisgibst, damit du ein bestimmtes Gefühl bei deinen Lesern hervorrufst. Und genau wegen diesen Fragen und Gefühlen ist der Leser geradezu gezwungen, weiterzublättern. Denn er braucht Antworten!
Hier geht es also darum, Informationen so aufzuteilen, dass der Leser immer wieder Fragen stellt und sich emotional auf den Protagonisten einlässt.
Das ist genau der Grund, warum lange Erzählpassagen mit Exposition (auch bekannt als "Information Dumps") nicht funktionieren. Sie geben zu viele Informationen preis, und zwar auf eine Art und Weise, die den Leser auf Distanz hält, anstatt ihn zu fesseln.
Wusstest du, dass J.K. Rowling das erste Kapitel von 'Der Stein der Weisen' fünfzehnmal umgeschrieben hat, weil sie immer wieder zu viel verraten hat? Tatsächlich enthüllte sie in ihrem ersten Entwurf das gesamte Rätsel um die Horkruxe.
Wenn du eine ganze Reihe von Fragen hast, deren Antworten der Leser unbedingt wissen will, dann solltest du die Lösung nicht so schnell verraten. Das Schlimmste ist, wenn du diese Fragen aufbaust und die Antwort dann in zwei Absätzen preisgibst. Das muss eine Szene sein - eine überzeugende Szene. Selbst wenn es eine ziemlich gute Enthüllung ist, musst du sie ausschöpfen. Und wenn du dein Geheimnis in Bruchstücken verraten kannst, umso besser. - James Patterson, Meisterklasse
Bevor wir genau auf diese 3 Erzählmittel eingehen, beachte folgende Dinge:
1. Zum einen kommen diese Formen des narrativen Antriebs nicht exklusiv vor. D.h. in einer Geschichte können alle drei Formen vorkommen. Keine ist exklusiv und schließt die anderen aus.
2. Die Worte, die ich zum beschreiben der 3 Formen nutze, können für einige zweideutig sein. Wenn Alfred Hitchcock von Spannung spricht, bezieht er sich auf das, was wir in der Fokalisiering als dramatische Ironie bezeichnen. Die Definitionen, die ich verwende, sind die, die ich vom Story Grid gelernt habe. Shawn Coyne (Story Grid) hat sie wiederum von Robert McKee gelernt. Die Quintessenz ist, dass wenn Geschichtenerzähler über ihr Handwerk sprechen und darüber, was die Aufmerksamkeit des Lesers aufrecht erhält, dann beziehen sie sich immer darauf, wie viele Informationen der Leser in Bezug auf den Protagonisten hat.
3. Außerdem ist es unmöglich, den Erzählantrieb von anderen Erzählprinzipien zu trennen. Er beeinflusst ebenso die Erzählperspektive, die steigenden Komplikationen, die eskalierenden Einsätze, das Tempo und viele mehr.
1. Technik: Externe Fokaliserung = ein Mysterium schaffen oder ein Geheimnis / ein Rätsel einbringen = Unwissenheit
Der Leser hat nicht all die Informationen, welche die Figur in der Geschichte besitzt.
Nach dem erzähltheoretischen Modell von Gérard Genette ist es die externe Fokalisierung.
Das bedeutet, dass man als Autor nicht durch Exposition sofort alles erklären muss, was eine Figur weiß, sondern dass der Leser dies selbst entdecken / herausfinden darf.
Es wäre unnatürlich z.B. für zwei Figuren in einem Gespräch zu sagen:
„Hey, unser einziger Sohn Ben, der mit der Anwältin Clara verheiratet ist, die nebenbei dieses Modegeschäft für Katzen betreibt, wurde von ihr vor die Tür gesetzt.‟
Interessanter ist es doch zu lesen:
„Sie hat Ben rausgeschmissen.‟
Das Weglassen von Informationen, sei es eine Erklärung, über die geschaffene Welt, die Umstände, Regeln ... (vor allem in Sci-Fi und Fantasy Geschichten) nimmt den Leser mit auf eine Entdeckungsreise. Als Autor sollte man bedacht sein, seine Leser so viel wie möglich erleben zu lassen. Auch wenn das bedeutet, ihnen gewisse Informationen vorzuhalten, bis sie aktiv durch Aktion oder Offenbarung aufgelöst / beantwortet werden.
Tipp: Man sollte vor allem am Anfang der Geschichte so viele Informationen wie nötig weglassen, um die Neugier des Lesers zu wecken. "Was geht hier vor? Ich will mehr erfahren." Die aufgeworfenen Fragen sollten im Verlauf der Geschichte beantwortet werden. Werden dahingegen zu viele Dinge/Fragen dem Leser bereits schon am Anfang erklärt/beantwortet, dann ist es langweilig. Was hält ihn noch in der Geschichte, wenn er schon alles weiß?
Wenn wir die externe Fokalisierung nutzen (ein Mysterium schaffen), können wir zwar Sympathie für den Protagonisten entwickeln, aber dadurch nicht viel Empathie schaffen.
Tipp Krimi: Bei Meisterdetektiv-Krimis ist es wichtig, dass wir als Autoren den Ermittler nicht zu weit vorauseilen lassen. Andernfalls werden die Leser seine Erkenntnisse nicht nachvollziehen können. Die Schlussfolgerungen, zu denen der Ermittler kommt, erscheinen dann unglaubwürdig, als ob er das unmöglich hätte wissen können.
2. Technik: Spannung aufbauen
Der Leser und der Protagonist in der Geschichte besitzen den selben Kenntnisstand / die gleichen Informationen.
Nach dem erzähltheoretischen Modell von Gérard Genette ist es die interne Fokalisierung.
Beispiel:
Nehmen wir an, der Protagonist kommt von der Suche nach seinem weggelaufenen Hund erfolglos nach Hause. Ein fremder Mann erwartet ihn und erzählt ihm, dass er mit ihm kommen muss. Etwas wäre mit seinem Hund geschehen. Der Unbekannte bietet an, den Protagonisten zu seinem vierbeinigen Freund zubringen.
In dieser Szene hat der Leser genauso viel Informationen über den Fremden, wie der Protagonist. Als Leser weiß man, was der Protagonist weiß. Man weiß nicht mehr über die fremde Person als der Protagonist.
Indem der Autor neue Begebenheiten / Umstände / Personen einführt, die weder der Protagonist noch der Leser einordnen / einschätzen kann oder die ihm unbekannt sind, kann der Autor Spannung erzeugen.
Man weiß einfach nicht, was man von der Wendung halten soll und zu was sie führen wird.
Gleichzeitig gerät der Protagonist in eine Krise.
Beispiel:
Soll er dem Fremden vertrauen, mit ihm gehen und entweder seinen Hund wiedersehen oder es war nur ein Vorwand, und etwas weit schlimmeres erwartet ihn; oder soll er das Angebot des Fremden ablehnen und selbst nach seinem Hund weitersuchen.
Im Gegensatz zum Mysterium, erzeugt Spannung ein hohes Maß an Empathie und Neugier darauf, wie die Geschichte ausgehen wird. Da die Leser die gleichen Informationen haben wie der Protagonist, sind wir im Einklang mit ihm. Niemand weiß, was als nächstes passieren wird. Aus diesem Grund wollen wir weiterlesen, denn diese Ungewissheit drängt nach Antworten.
Rachel Watsons Geschichte in The Girl on the Train ist ein hervorragendes Beispiel dafür.
3. Technik: dramatische Ironie schaffen
Der Leser hat mehr Informationen, als die Figur in der Geschichte besitzt.
Dramatische Ironie ist die Technik, mit der am sparsamsten umgegangen werden sollte.
Nach dem erzähltheoretischen Modell von Gérard Genette ist es die Nullfokalisierung.
Offenbart man dem Leser zu viele Informationen, während der Protagonist weiter im Dunklen tappt, kann das schnell zu einem Verlust des Leserinteresses führen.
Vor allem, wenn man dramatische Ironie am Anfang der Geschichte einsetzt, kann es passieren, dass der Leser das Buch zuklappt und sagt: „Oh man, das wollte ich doch gar nicht wissen. Jetzt weiß ich genau, was geschehen wird.‟
Bei dramatischer Ironie fragt sich der Leser nicht, wie die Geschichte enden wird, sondern wie und warum die Figur tat, was sie tat.
Das sorgt für ein Gefühl des Unbehagens, weil wir wissen, worauf der Protagonist zusteuert. Es kann so sein, als würde man ein Zugunglück beobachten.
Damit dramatische Ironie funktioniert, ist es wichtig, einen überzeugenden Protagonisten zu haben, sonst wird der Leser sich nicht emotional auf die Story einlassen.
Wenn wir bereits wissen, wie die Geschichte ausgeht, können wir uns nur noch fragen, wie die Figur von Punkt A zu Punkt B gekommen ist. Es geht um die Reise. Was bei der internen Fokusierung Beklemmung auslöste, wird bei Dramatischer Ironie zu Mitgefühl.
Beachte, dass mit jeder Information, die man dem Leser mit Hilfe von dramatischer Ironie preisgibt, er Erwartungen aufbaut und eine voreingenommene Meinung hat, was wie passieren wird. Als Autor muss man es schaffen, diese Erwartungen entweder zu übertreffen oder so einen unerwarteten Bogen zu schlagen, dass der Leser überrascht wird.
Mehr zu diesem Konzept kannst du dir im Podcast von Shawn Coyne und Tim Grahl anhören.