Anti-Plot, der Rebell gegen die klassische Geschichte


Der Anti-Plot ist die Rebellion gegen die klassische Form von Geschichten. Finde in den folgenden Absätzen heraus, warum und gegen was der Anti-Plot rebelliert.

zuletzt bearbeitet am 30. Nov 2021

veröffentlicht am 02. Sep 2017 von Eva Maria Nielsen

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Anti-Plot, der Rebell

Anti-Plot, der Rebell - Anti-Plot, der Rebell gegen die klassische Geschichte


Der Artikel ist Teil der Erkenntnisse des Story Grid.
© Story Grid, Shawn Coyne

 

In den vorangegangenen Kapiteln setzten wir den Bogenplot als Paradebeispiel für externe Inhaltsgenres, während der Mini-Plot dem internen Genre dient. Aber wo können wir den Anti-Plot einordnen?

 

Die Entstehung des Anti-Plots im 20. Jahrhundert

Angesichts der Schlachten der zwei Weltkriege und der Aussicht auf die vollständige Vernichtung der menschlichen Rasse, beschäftigte sich eine Gruppe von Künstlern mit dem Gedanken des Untergangs der Zivilisation. Sie tauchten tief in die Form der Geschichte, um die Antwort auf die Frage zu finden, ob die Dunkelheit so viel Potenzial im Geschichtenerzählen besaß wie das Licht.

Tatsächlich war das Geschichtenerzählen selbst ein Mittäter in den Massenermordungen, nicht nur von Soldaten, sondern auch von unschuldigen Zivilisten, deren einziges »Verbrechen« in ihren Genen lag. Unbestritten konnten die meisterhaften Propagandabeauftragten die Form von Geschichten zu grauenvollen Zwecken einsetzen. Schon im Jahr 388 v. Chr. forderte Plato die Herrscher von Athen auf, Dichter und Geschichtenerzähler zu verbannen. Er verstand, wie mächtig eine gut gewebte Geschichte sein kann. Die Propagandamaschinerie des Zweiten Weltkriegs hätte ihn kaum schockiert, als es ihnen gelang, ein ganzes Volk von ihrer Vorherrschaft zu überzeugen, während die ›Beseitigung von defekten menschlichen Exemplaren‹, die ihre allmächtige Blutlinie schwächen würde, durch einen fein gesponnenen Bogenplot so kaltblütig ausgefeilt wurde.

Der Aufstieg von Massenmedien (Druckerpresse, Film, Radio, Fernsehen und dem Internet), um Geschichten visuell und drahtlos zu kommunizieren, veränderte die lineare Form von Geschichten zu einem exponentiellen Phänomen, so schnell wie die technologische Adaption es erlaubte. Plötzlich wurden uns die Geschichten nicht mehr von den Großeltern erzählt, sondern von neuen Autoritätsfiguren und den wunderschönen neuen Göttern, die wir als ›Stars‹ bezeichnen. Die hübsch verpackte Botschaft ist eben unwiderstehlich.

Durch die Weltkriege verstand man, dass der Bogenplot die dominante Form von Geschichten ist und das sie für die Kommunikationsvorrichtung von Tyrannei (sowie Public Relations / Werbung / Verkauf) Kausalität erfordert. Man fand ebenso heraus, dass der Mini-Plot genauso von Effekt und Wirkung beeinflusst wird, wenn auch auf interner Ebene.

 

Was die Künstler in den Nachkriegsjahren verblüffte, war, dass die Hervorhebung einer einzigen "Ursache" für Massenmorde lächerlich ist. Es war verrückt anzunehmen, dass das Konzept von der Vorstellung die Opfer für ihre eigene Vernichtung zu beschuldigen (sie haben x, also haben sie y verdient) noch weiter zu vermitteln. Die beiden charakteristischen Strukturen (Bogenplot und Mini-Plot) erwiesen sich als praktisch unmöglich, diese Absurdität zu vermitteln.

 

Die Rebellion gegen die Geschichte an sich

Durch dieses ›Makel‹ der traditionellen Form von Geschichten entstand der Anti-Plot als die Rebellion gegen die Geschichte selbst. Um diesem Ruf gerecht zu werden, bricht er jegliche Regeln: Es gibt weder die Bedingung nach einer konsistenten Realität, nach Kausalität, nach der Einhaltung der Grenzen der Zeit noch das sich der Protagonist / die Protagonisten am Ende der Geschichte durch ihre Erfahrungen verändert haben müssen. Weder besiegen noch kapitulieren die Figuren den äußeren oder inneren antagonistische Kräften. Sie bleiben, wie sie waren.

Mit dem Anti-Plot entstand das Theater des Absurden, der Existentialismus, Meta-Fiction und unzählige Meisterwerke auf Leinwand. Er veränderte die Art, wie sich die Welt sah. Der Mensch wurde nicht mehr als das Individuum dargestellt, dass sich rational und schrittweise verbessern müsse. All seine fundamentalen Überzeugungen wurden in Frage gestellt.

 

Keine Regeln, also ist der Anti-Plot einfach zu schreiben?

Mit der Gewissheit, dass man alle Regeln der klassischen Geschichte brechen darf und sie nicht in diese wirre Genre Unterteilung stecken muss, kann es doch nur ein Leichtes sein, eine Geschichte mit einem Anti-Plot zu schreiben.
Falsch gedacht.
Wie willst du einen Anti-Plot schreiben, wenn du nicht weißt, wogegen er rebelliert? Ohne Kenntnisse vom Bogen- und Mini-Plot könntest du genauso gut einen Teilchenbeschleuniger bauen ohne das geringste Verständnis von Physik.

Dies gesagt, sobald du dir ein umfassendes Wissen zum Bogen- und Mini-Plot angeeignet hast, wirst du ein Gefühl für die Regeln besitzen, und wissen, wann du sie brechen darfst.

 

Der Anti-Plot – Beispiele zum besseren Verständnis

Durch seine Rebellion gegen die klassische Form des Geschichtenerzählens erkennen wir den Anti-Plot in den Parodien, Satiren oder anderweitig ironischen Storys. In ›Der seltsame Fall des Benjamin Button‹ erkennt man schnell, das Fitzgerald zwei Hauptstrukturen unterminiert: Der Plot des Erwachsenwerdens und das Leben eines Helden.

Brokeback Mountain entspricht in seiner Struktur dem Plot des unglücklich, verliebten Paares (Romeo und Julia, West Side Story). Jedoch mit zwei männlichen Liebenden steht die Geschichte im Widerspruch zur Tradition. Ahmt sie doch die konventionellen Handlungen des Hauptplots nach (Treffen / Anziehung / Liebe / Trennung / Wiedervereinigung / endgültige Trennung mit Tod oder persönlichem Opfer), was die Geschichte zu einem Anti-Plot werden lässt.

 

Ulysses ist nicht nur einer der bedeutendsten Romane des irischen Schriftstellers James Joyce, sondern ist er auch ein Anti-Plot in vielerlei Hinsicht. Als Erstes natürlich, weil er die Struktur von Homer’s Odyssee nachahmt, aber das Epos nach Dublin in das Jahr 1904 versetzt. Joyce verwandelt die Geschichte der westlichen Kultur, voller Gewalt, Heldentum und Handlung zu einer Feier des täglichen Lebens mit seinen kleinen Herzensbrechern und kleinen Siege.

Ebenso stellt Joyce den Ehebruchroman mit seinen Tragödien, die aus Rache geschehen, auf den Kopf. Die Geschichte beginnt mit Leopold Bloom, ein anständiger, aber unauffälliger Verkäufer, der an jenem Tag herausfindet, dass seine Frau Molly im Begriff ist, eine Affäre mit Blazes Boylan zu haben. Dieser Gedanke geht ihm nicht mehr aus dem Kopf und verfolgt ihn, als er durch Dublin wandert, wobei Joyce liebevoll jeden Schritt dokumentiert, von seinem Frühstück bis hin zu dem Anstarren des Mädchens am Strand.
Als Bloom spät in die Nacht nach Hause kommt, weiß er, dass Molly mit Boylan geschlafen hat, und er nimmt es gefasst hin. Im Gegensatz zu den Hauptplots, wo der betrogene Ehemann in die Tragödie der Rache verfällt und es mit dem Untergang der ehebrecherischen Frau endet, ist es in Ulysses kein besonderes Ereignis, kaum wichtiger, als das Sandwich, das Bloom zum Mittagessen isst.

 

Das US-amerikanische Liebesdrama Blue Valentine ist die neuste Version dieses Anti-Plots, die den Niedergang der Liebe eines Paares charakterisiert. Ein Fakt über ihre Beziehung begründet sich in der Gewissheit, dass ihre Tochter nicht sein biologisches Kind ist, und beide wissen, dass der andere es auch weiß. Und trotzdem wird aus dieser Grundlage für Konflikte nichts gemacht, als wäre es kein Problem. Der Regisseur Sean Durkin scheint zu suggerieren, dass die Hauptplots, die wir von dieser Situation erwarten, weniger interessant sind als die banale, aber herzzerreißende Erfahrung der Liebe, die vergeht.



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Melanie Naumann ist die erste zertifizierte deutsche Story Grid Lektorin. Sie ist die Gründerin von Storyanalyse.de und gab die Leitung von Storyanalyse im Dezember 2021 an die Geschichtenhebamme Eva Maria Nielsen ab. Melanie arbeitet seither vorwiegend mit Songwritern zusammen, um ihnen zu helfen, die Power of Storytelling für ihre Songtexte zu nutzen.

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